Wie war das überhaupt: das erste Mal? Als man plötzlich in einem Raum mit anderen Menschen saß und von Dingen hörte, die einem bis dato völlig fremd gewesen waren. Man suchte nach einer Möglichkeit, sich selbst Heilung zu schenken, etwas mit Energiearbeit zu machen. Und begegnete vielleicht einem weißgewandeten Wesen wie aus einer anderen Welt, das von seltsam drehenden Energiewirbeln, geistigen Welten und Parkplatzsuche erzählte. Wenn man dann noch als Mann fast allein unter netten Frauen ist, wird das Ganze zu einer komplexen Herausforderung. Holger Uhlig berichtet.
Nicht zu glauben, wir kennen uns erst vier Stunden und schon
kniee ich vor ihr und meine Hände gleiten langsam über ihren Körper und
senken sich auf ihren Bauch. Ich merke, wie sie langsam entspannt und
konzentriere mich ganz auf meine Hände. Jetzt nur nichts falsch machen,
fährt es mir durch den Kopf – und was mache ich eigentlich hier?
Kennen gelernt ist gut, getroffen habe ich sie erst vier Stunden
vorher – das erste Mal, ja. Das war gestern. Heute habe ich mich so gut
gefühlt, dass ich seit geraumer Zeit wieder mal Lust verspürt habe,
meine Laufschuhe zu schnüren und mir die Gegend unter leicht keuchenden
Geräuschen anzusehen. Immerhin fast 40 Minuten trabte ich durch die
Wälder. Mir ist es so gut gegangen wie lange nicht mehr. Ob der
gestrige Tag die Ursache dafür gewesen ist?
Der beginnt ganz normal. Noch schnell ein halbes Brötchen rein
geschoben und los geht es. Die Tasche geschultert mache ich mich auf
den Weg zur U-Bahn. Aussteigen, Adresse suchen, verwundert umblicken –
ja hier über dem Tierfutterladen ist es. Da stehen sie nun alle. Ich
geselle mich zu ihnen und wünsche hamburgisch »Moin, Moin« – ich bin
dabei. Das dort muss die Meisterin sein, bodenlanges, violettes Kleid,
vollschlank, blonde Haare, trotzdem etwas fremdländisch anzuschauen –
es kann losgehen. Ein großer, sonnendurchfluteter Raum nimmt die Gruppe
auf. Dielenboden, helle Wände, große Fenster, Sonne – ein schöner Tag.
Ich hole mir eine Matte, lege meine Decke und mein Kissen darauf und
harre der Dinge, die da kommen mögen. Begrüßung, freue mich…
15 Frauen und nur drei Männer, vielleicht ist das doch keine so gute
Idee gewesen, fährt es mir durch den Kopf. Links neben mir ein scheuer
Blick, schaut gleich weg. Rechts neben mir blitzende Zähne und ein
Lächeln, (was für eines) trinkt versonnen ihren Tee. Yogi? Ich blicke
in die Runde, während die Meisterin mit der Theorie beginnt:
…»Universelle Lebensenergie, chinesisch Qui, indisch Prana« – wir
werden hier Einblicke in das Usui-System erhalten. Na denn. »Das
Universum ist von einer unerschöpflichen Energie erfüllt, wir müssen
sie nur abrufen« folgt darauf. Gut. Die Theorie zieht sich. Als vom
Energiekanal die Rede ist (der ich werden soll – wie alle anderen
auch), schaue ich wieder in die Runde. Keiner blickt verwundert auf.
Ach so. Weiter. Die Engel, welche euch zur Hand gehen, Stopp, stopp –
Rundumblick, alles entspannt. Entweder bin ich noch nicht so weit, habe
ein männliches Problem oder ein ostzonales Bildungsdefizit. Die haben
den Engel geschluckt, einfach so. Mir ist der Begriff Engel immer nur
im Zusammenhang mit Jahresendzeitfigur oder dem besten Lied von
Westernhagen ein Begriff. Aber keiner schaut verwundert oder verwirrt
in der Gegend herum, nichts, alles normal, alles entspannt.
Ich warte auf das Aufspringen der Tür – Hape Kerkeling kommt rein
und zeigt die Kameras, dort und dort. Aber die Tür bleibt geschlossen.
Entspannung. Habe ich auch dringend nötig, meine Gehirnzellen
rotieren völlig im Vakuum, ich krieg es nicht zusammen. Musik, leise
wie ein ferner Gebirgsbach. Die monotone Stimme lullt mich ein. Anfangs
kann ich der Geschichte folgen, aber schon nach wenigen Minuten nicht
mehr. Männer können eben nicht zuhören. Ich gleite in Traumwelten ab.
Aus. Erst leise und verschwommen, dann lauter und deutlicher, kommt die
Stimme wieder an mein Gehör. Ich komme zu mir und bin einfach frei.
Super. Dann heißt es weiter Theorie, Chakren kennen lernen. Vom
Scheitel- bis zum Wurzelchakra, keines wird ausgelassen, die Farben
dazu, die Krankheiten dazu… und eine über 2500 Jahre alte Heilmethode
wird uns erläutert. »Psst, leise, zuhören!« Es gibt drei Grade: Im
ersten wird der Schüler zum Lichtkanal »geweiht«. Oh! Im zweiten Grad
wird das Energieniveau durch erneute Einweihung noch erhöht. Das geht?
Im dritten, dem »Meistergrad« wird der Schüler in die Meisterenergie
eingeweiht. Ich bin völlig überfordert – hilfe! Welche Energie, woher,
wohin, womit?
»Du musst die Energie nur durch dich fluten lassen und mit den
Händen übertragen, das kann jeder, der die Technik beherrscht.« Ist so
einfach wie Fahrrad fahren, geht es mir durch den Kopf. Los geht's,
Eigenversuch. Die Hände werden auf die verschiedenen Chakren gelegt und
bleiben dort drei Minuten. Volle Konzentration. Merke ich was oder doch
nichts? Scheitel, Herz, Wurzel – geschafft. Das war es? Die monotone
Stimme beginnt wieder. Ich lasse mich auf die Matte gleiten und folge,
so gut es geht. Leider reicht es wieder nur zur Kurzstrecke. Nach dem
Aufwachen folgen Fragen nach dem inneren Kind, der inneren Frau und
demselbigen Mann. Wer, wie, was – ich hab es verpennt, wieder
eingeduselt. Die Mädels beginnen zu berichten von Räumen und
Begegnungen – war da was? Nee, leider nicht – etwas Licht, ansonsten
eine Menge angenehme Wärme und Schluss…
Jetzt wird's ernst, Partnerübungen. »Na denn, leg dich mal hin!«
vernehme ich und überlege angestrengt, ob es auch einen Tantra-Kurs
gibt. Meine nette Nachbarin macht sich die Hände warm, die Behandlung
(im Testbetrieb, weil wir noch nicht geweiht sind) beginnt. Die Matte
nimmt mich auf, die Augen zu – Atem einigermaßen ruhig. Sie nimmt
meinen Hinterkopf in ihre Hände, passiert was? Wärme, Kribbeln,
vibrierende Energien? Fehlanzeige. Was habe ich erwartet? Pulsierende
Stromstöße? Ich sollte meine Ansprüche dringend überdenken. Als
nächstes die Stirn, nichts Neues, die Augen – Fehlanzeige. Jetzt die
Ohren, es wird warm, wärmer, heiß. Schizophrenie pur. Die Ohren sind
wirklich heiß – ich glaub's nicht, doch ich glaub's. Oder ist es die
Sonne? In den Händen, nein, ja. Dann der Hals, sie beugt sich über
mich, riecht gut. Mein Unterkiefer pulsiert leicht. Freitag ist der
nächste Zahnarzttermin, fährt es mir durch den Kopf. Dann das Herz, ich
habe fast Schmerzen, auf jeden Fall ein Druckgefühl, obwohl ihre Hände
über meiner Brust in der Luft schweben. Hilfe. Sie arbeitet sich zum
Bauch vor und riecht gut. Genug. Ich bin leicht verwirrt, aber
entspannt, entspannt. Nun bin ich dran. Ich bemühe mich redlich, die
richtigen Handpositionen auszuführen, immer leicht schwebend, nach
Absprache auch aufliegend. Ich beuge mich über sie – ihr Atem wird
ruhig. Scheitel, Augen, Herz, immer tiefer arbeite ich mich ab (was für
eine Frau), und sie liegt da und duftet.
Danach schauen wir uns an. »Wo war's bei dir warm«? fragt sie. »Die
Ohren, am Hals pulsierte es – und das Herz« entfährt es mir.
Verständiges Lächeln. Ich weise darauf hin, dass ich nicht sicher bin.
Einbildung soll es ja geben. Nein, nein ist schon OK. Beim
Wurzelchakra, oder war's das Sexualchakra, kam die Meisterin, um selbst
bei ihr Hand anzulegen und sie verspürte ein deutliches Pulsieren. Was
will uns das sagen? Welche Krankheiten oder Energieblockaden soll es
dort geben?
Sie lächelt und sagt »Wenn man sich etwas ganz stark wünscht, und
oben« – wo? – »bestellt, dann passiert es auch«. Aha. »Was denn?« frage
ich ziemlich desorientiert. »Einen Parkplatz direkt vorm
Einkaufszentrum zum Beispiel«. »Und das klappt?« »Ja.« Ich werde es
probieren. »Was machst du sonst noch, außer Reiki-Kurse zu besuchen?«
Sie erklärt mir, dass sie Nia mache, eine tänzerische
Entspannungstechnik. Ja. Außerdem hat sie ein Pferd. »Jetzt im Winter
reiten?« frage ich. »Nein, nur bewegen, mit den glatten Hufeisen würde
das Pferd doch ausrutschen« antwortet sie. Natürlich – was für eine
blöde Frage, mit Pferden kenne ich mich ja toll aus, sinniere ich.
Sechsmal in der Woche müsse sie hin – »es ist fast wie ein Kind«
ergänzt sie, und: »Im Winter longieren und im Sommer reiten«. Wenn es
so einfach wäre, denke ich, keine Windeln, keine Taxifahrten zum
Sportklub, keine Nachhilfe, keine Zahnspange – das Elternsein wäre so
einfach, eine lange Leine und ab und zu eine Mohrrübe.
So, nun zum Erfahrungsbericht – ich halte mich bedeckt. Lieber
nichts sagen als was Falsches. Auch meine Energiespenderin hält sich
zurück. Dafür fallen andere existentiellere Fragen wie: »Kann ein
energetisch Niedriger einem Höheren auch Reiki geben?« »Aber sicher,
das kann jeder.« Klar. »Kann man auch was falsch machen?« »Eigentlich
nicht, aber man muss immer fragen ob der Empfangende das überhaupt
will«. Sowieso klar. »Kann das jeder?« »Ja.« Eh klar. Zum Abschluss
wieder eine Reise ins Unterbewusstsein. Ich sinke auf meine Matte,
wickle mich in meine Decke, die Sonne ist weg, die Füße kalt und
folge…
…folge über den schmalen weichen Sandweg auf die hölzerne Bank,
dann über die grüne Blumenwiese an den blau glitzernden See. Es ist
heiß. Ich lege alle meine Kleider ab und schon bin ich im kühlenden
Wasser. Dann wieder raus, ich lasse mich von der Sonne trocknen und
laufe weiter, weiter, weiter… Als die Stimme wieder an mein Ohr
dringt und ich wieder auf die Bank zusteuere und später auf den Sandweg
einbiege, fühle ich mich leicht und locker. Ich schlage die Augen auf,
recke und strecke mich, bin wieder da – der See ist weit weg. Innerlich
ziehe ich Resümee – wie war's?
Nicht zu glauben, wir kennen uns erst vier Stunden und schon kniee
ich vor ihr. Anspannung, Entspannung, Chakra, Energiekanäle, Engel,
Wohlfühlen – ohne das Brimbamborium drum herum einfach Klasse und
schwer zu empfehlen. Ich bin relaxt und ziemlich schlapp, richtig
gehend platt. Die Tagesthemen werde ich heute wahrscheinlich nicht mehr
erleben. Bis zum nächsten Kurs, unbekannte Schöne – wir sehen uns am
See.
Alle Rechte bei Holger Uhlig und Kolumnen.de – Foto von tinykahuna und Photocase. Das Reikiland dankt für die freundliche Genehmigung.
……………für diesen wunderbaren Text! Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie es dem männlichen Wesen ergangen sein musste! Manches Mal hab ich geschmunzelt!
Danke – Regina