veröffentlicht im Reiki-Magazin Nr. 2/2005
“Du machst ja gar kein Reiki!”
“Doch, mache ich wohl!”
“Nein.”
“Doch.”
Viele erinnern sich vielleicht noch an die heftigen Diskussionen der 90er Jahre, an die Grabenkriege um das richtige und das falsche Reiki. Es waren Probleme, die heute größtenteils ausgestanden scheinen. Doch wenn die Toleranz auch gewachsen ist: der Urspung jener verhärteten Fronten existiert in den Köpfen vieler Menschen weiter.
Reiki ist meiner Ansicht nach nicht-polare Energie, non-duale Kraft – deshalb auch die Bezeichnung als universelle oder kosmische Lebensenergie. Unsere Lebenswelt dagegen ist mittendrin in der Welt der Erscheinungen, ein polarer Raum voll Liebe und Hass, Freude und Schmerz, Friede und Krieg. Wenn wir uns in kosmische Gefilde hinein bewegen wollen, brauchen wir in der Regel Techniken – viele weise und suchende Menschen dieser Erde haben lange Zeit damit verbracht, solche Mittel und Wege zu finden.
Ebenso braucht es in der Regel Methoden, wenn wir den Himmel auf die Erde bringen wollen – eine Weisheit, die nicht umsonst im oftmals vernachlässigten Reiki-Symbol steckt. Um mit Reiki arbeiten zu können, braucht es ein System. Dieses System hat uns ein Mann namens Mikao Usui geschenkt. Dies lernt normalerweise jeder Schüler im ersten Grad. Wer ein solches Seminar absolviert, hat also danach also, korrekt ausgedrückt, nicht den “ersten Reiki-Grad”, sondern den “ersten Grad im Usui-System”. Er praktiziert nicht “Reiki”, sondern das “Usui-System”.
Irgendwann auf dem Weg des Usui-Systems von Japan in die USA hat es sich eingebürgert, auch das System als “Reiki” zu bezeichnen. Natürlich, denn dieser Ausdruck ist griffiger, kürzer und enthält ein kosmisches Versprechen. Wenn allerdings das eigene System als “Reiki” definiert wird, dann wird aus einer Vereinfachung im Reden eine Simplifizierung des Denkens. Wenn man dann jemandem begegnet, der etwas anderes praktiziert als das eigene System, dann konnte – und kann vielleicht immer noch – unnötiger Streit entstehen. All der Ärger in der Reiki-Szene der 90er Jahre basieren für mich also vor allem auf einem einzigen, großen Missverständnis.
Während mittlerweile Harmonie eingekehrt zu sein scheint, muss ich bei Diskussionen im Internet oder dem Lesen von Reiki-Büchern immer wieder feststellen, dass die Basis dieses Missverständnisses weiterhin besteht und fortwirkt: die fehlende Differenzierung zwischen Energie und System. Auch der harmonische Zustand ist in seiner Friedfertigkeit nicht ganz sicher. Manchmal wirkt es, als hätten sich die Kontrahenten von damals nur in ihre eigene Ecke zurückgezogen. Sobald der Gong ertönt, stürmen sie womöglich wieder aufeinander ein. Dabei kann die Sache so einfach sein.
Reiki im Sinne von universeller Lebensenergie lässt sich nicht in einen engen Rahmen sperren. Wir können Konzepte davon machen, aber letztendlich können wir sie nur an ihren Wirkungen messen. Wenn wir den Lichtschalter betätigen, wird es hell im Zimmer. Wir sehen den herumliegenden Dreck und können mit dem Aufräumen beginnen. Wir können uns berührt fühlen, die Wärme spüren, die Rückverbindung mit etwas, das größer ist als wir selbst. Das sind die Momente, wo wir einfach wissen: das ist Reiki!
Dann gibt es die Möglichkeiten, Reiki auf die Erde hinunterzubringen, Gefäße, in welche die Energie gegossen werden muss, damit man sie transportieren kann. Manche dieser Methoden sind über Jahre hinweg entwickelt, verfeinert und immer wieder überprüft worden: da gibt es Usui-Do und japanische Reiki-Techniken ebenso wie “Usui Shiki Ryoho” oder “Das Usui-System der natürlichen Heilung”, so wie es von Phyllis Furumoto und Paul Mitchell auf der Basis der Lehren Hawayo Takatas klar definiert wurde. Oder die Radiance-Technik von Dr. Barbara Ray. Auf der anderen Seite finden sich Dutzende von Stilen, die erst kurz bestehen und über deren Kraft und Überlebensfähigkeit sich kaum Aussagen treffen lassen. Oder es gibt Kreuzungen zwischen Systemen, wo jemand eines der älteren Systeme um Praktiken eines der neuen ergänzt.
Im glücklichsten Fall ist allen Systemen eines gemeinsam: sie arbeiten mit Reiki. Das ist das Verbindende unter uns, das, was Glaubenskriege überflüssig macht. Und gleichzeitig gibt es Unterschiede zwischen den Systemen, das, was für jeden einzelnen Praktizierenden Identität schafft. Auf unserem Globus herrscht eine Vielfalt von Ländern und Sitten. Ansonsten wären Reisen langweilig. Es ist durchaus natürlich, dass diese Vielfalt auch bei den Reiki-Stilen besteht. Auch, wenn viele unter uns es sich zuweilen anders wünschen würden, weil sie von der Integrität und Effektivität des von ihnen praktizierten Stiles überzeugt sind.
Viele Reiki-Meister bezeichnen sich in Anzeigen als “traditionell” oder ihren Stil als “Usui-System”. Wenn man dann nachprüft, stellt sich zuweilen heraus, dass es mit der “Tradition” nicht weit her ist oder das System nur insofern “Usui” ist, als dass es auf ihn zurückgeht. Mit dem, was Usui oder Takata getan haben, mag es allerdings kaum noch etwas zu tun haben. Dies ist an sich kein Problem. Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Päckchen etwas anderes enthält, als das Etikett besagt. Dann wünsche ich mir Klarheit, damit keine Missverständnisse entstehen.
So manche sagen heutzutage: “meine Linie ist mir egal.” Die Frage nach der Linie gerät zuweilen in den Ruch von reiner Abstammung, einer Frage, mit der in Deutschland vor über 60 Jahren viel Unheil angerichtet wurde. Aber im Fall der Reiki-Linie geht es nicht um besser oder schlechter. Es geht darum, sich selbst in Raum und Zeit verorten zu können. Wenn ich weiss, wem ich nachfolge und was derjenige zu dem System beigetragen hat, das ich praktiziere, dann kann ich daraus meine “Reiki-Identität” definieren.
Für einen Schüler des ersten oder zweiten Grades mag diese Frage nebensächlich sein. Hier spielen sich Lernerfahrungen noch auf anderen Ebenen ab. Doch wenn jemand den Weg des Reiki-Meisters beschreitet, vielleicht gar eine eigene Linie gründet, dann entsteht eine neue Art von Verantwortung. Man wird Teil einer Kette, die in Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig reicht. Ich denke, dies ist etwas von dem, was Phyllis Furumoto als vierten – und in meinen Augen am schwersten zu erläuternden – Aspekt des Usui Shiki Ryoho definiert hat: den mystischen Orden.
Doch egal, ob man diese Erkenntnis aus einem der bekanntesten Reiki-Systeme annehmen kann oder nicht: vielleicht können wir uns bewusst machen, dass der Baum der Reiki-Stile viele Äste besitzt. Und dass es dem Miteinander der Reiki-Gemeinschaft helfen kann, sich wieder bewusst zu machen, wann man von einem Ast redet und wann vom Licht, das den ganzen Baum am Leben erhält.